Darum geht es nicht
Essay von Dilek Güngör, Journalistin und Autorin aus Berlin
Vera sagt, sie habe am Mittwoch keine Zeit. Vera sagt, sie sei bisher jeden Mittwoch dagewesen, oft als Erste, was daran liege, dass sie den kürzesten Weg vom Büro zum „Beppo“ habe, das sei ihr schon klar. Wir anderen seien immer nach ihr gekommen und hätten dann erst noch ein Telefonat vor der Tür zu Ende bringen oder erst noch auf die Toilette gehen oder an der Theke noch mit Beppo quatschen müssen. Und wenn dann alle säßen, würde Timo erzählen, und Kristof und Ayla und Sofia, und niemand würde Vera etwas fragen, oder wenigstens etwas dazu sagen, dass sie schon seit 18:00 Uhr da sei, worum es ihr überhaupt nicht gehe, aber immer habe sie hinterher ein doofes Gefühl, weil sie nie miteinander sprächen an diesem Tisch bei „Beppo“. Diese Woche komme sie nicht. „Das kannst du den anderen ruhig ausrichten.“
Sofia sagt Timo, Vera komme am Mittwoch nicht ins „Beppo“. Sie richtet ihm aus, Vera sei genervt, dass Ayla und Kristof immer zu spät kämen und dann erst lange telefonieren müssten. Timo sagt, das sei doch höflicher, als es am Tisch zu tun. „Außerdem versteht man im ‚Beppo‘ das eigene Wort nicht.“ Sofia sagt, Vera gehe es auch darum, dass sie immer als Erste da sei, auch wenn es ihr nicht darum gehe.
„Vera hat den kürzesten Weg“, sagt Timo. „Und 18:00 Uhr hat sie vorgeschlagen. Mir ist das eigentlich zu früh. Das kannst du ihr gerne ausrichten.“
Sofia hat keine Lust, Vera Timos Nachricht auszurichten, sie hat ja schon Veras Nachricht Timo ausgerichtet. Sie ist keine Botin, sie wird Veras und Timos Nachricht nicht an Ayla und Kristof ausrichten.
Am Mittwoch ist Vera wirklich nicht da, aber Timo und Ayla und Kristof und Sofia.
„Kommt Vera nicht?“, fragt Ayla.
Sofia weiß nicht, wie sie zusammenfassen soll, was Vera gesagt hat. Timo weiß es und sagt, Vera hätte das Gefühl, sie sei ihnen nicht wichtig genug.
„Das hat sie nicht gesagt“, sagt Sofia.
„Zu mir hat sie gesagt, wir würden hier nur sitzen und aneinander vorbeireden“, sagt Kristof.
„Hast du mit ihr gesprochen?“, fragt Timo.
„Sie hat mich angerufen“, sagt Kristof. „Sie könne nicht so wie wir über den Tisch hinwegrufen, was sie heute gemacht habe und worüber sie sich gefreut und worüber geärgert habe. Sie brauche persönliche Ansprache.“
Daraufhin sagt niemand etwas, trotzdem ist es nicht still im „Beppo“, Beppos Lokal ist der lärmigste Laden im Viertel. Da kommt schon Beppo und setzt sich mit seinem Blöckchen an den Tisch.
„Wo habt ihr Vera gelassen?“, fragt er.
„Sie muss heute länger arbeiten“, sagt Sofia. Die anderen sehen sie an. „Das Kind ihrer einen Kollegin hat Corona, die andere hat eine Zahnoperation. Und morgen haben sie Abgabe, vielleicht muss sie die ganze Nacht durcharbeiten.“ Würde nicht ihr Handy klingeln, könnte sich Sofia noch mehr ausdenken. Jetzt muss sie kurz raus.
„Ich lasse ihr eine Pizza ins Büro liefern“, sagt Beppo.
„Super Idee“, sagt Ayla.
Sofia kommt zurück, am Handy war nicht Vera, sondern Sofias Sohn, der wissen wollte, wann sie wiederkomme.
„Hier kann man sich überhaupt nicht unterhalten“, sagt Kristof.
„Du musst halt lauter sprechen“, sagt Timo.
Darauf schweigt Kristof, Timo erzählt von seinem Kollegen, und Sofia von ihrem Sohn, und Ayla hat den Mund voller Tomatenbrot, das ist der Gruß aus der Küche.
Am Morgen ruft Vera Sofia an und fragt, wer von ihnen ihr eine Pizza ins Büro hat bringen lassen.
„Ihr hättet doch wissen müssen, dass ich nach sechs nicht mehr da bin.“
Sofia sagt, sie habe nichts liefern lassen. „Vielleicht jemand von den anderen?“
„Redet ihr denn nicht miteinander?“
Dilek Güngör ist Journalistin und Autorin aus Berlin. Ihr Roman „Vater und ich“ erschien im Verbrecher Verlag.