Der weiße Ritter
„Akte“-Moderator Ulrich Meyer über investigativen Journalismus und das Infotainment-Geheimnis
Adlershof Journal (AJ): Erinnern Sie sich an Eduard Lintner?
Meyer: Nein.
AJ: Ein CDU-Abgeordneter, der eine Haarprobe anbot, als Sie über den Kokainskandal im Bundestag berichteten.
Meyer: Nein, da hat sich keiner testen lassen. Wir haben das im Europäischen Parlament noch einmal gemacht. Da hat EU-Präsident Barroso geschrieben, das wären die Praktikanten, also kein politisches, sondern eher ein Erziehungsproblem.
AJ: Vor 20 Jahren fiel die Mauer und der Startschuss für Ihre Sendung ‚Explosiv – der heiße Stuhl’. Gibt es einen Zusammenhang?
Meyer: Weltreiche kommen, Weltreiche gehen, aber da gibt es keine Überschneidung. Eine zeitliche Koinzidenz. Profitiert haben eher die Kollegen von Spiegel TV, die damals alles abdeckten und das heute immer noch per DVD verkaufen.
AJ: Ein Vierteljahrhundert Privatfernsehen. Focus Online schreibt, ‚wir sollten uns freuen und dankbar sein’. Sehen Sie das auch so?
Meyer: Natürlich. Die Auswahlmöglichkeiten sind sehr viel größer geworden, aber auch die Abgründe an Fürchterlichkeiten. Wenn ich mir vorstelle, dass sich das ZDF zur besten Sendezeit ‚Die Mega-Städte der Antike’ leistet, knie ich nieder und sage: Was für eine Bandbreite das Fernsehen hat. Das ist auch Verdienst der Privaten. Sie haben ein gewisses Aufwachen bei den Öffentlich-Rechtlichen, einen Umdenk-Prozess in Gang gesetzt. Der einzelne Zuschauer und personalisierte Geschichten sind durch das Privatfernsehen wieder wichtig geworden.
AJ: Ihr Sternzeichen ist Steinbock. Ein Nein als Antwort lässt der Steinbock nicht gelten, er versucht es, bis der Widerstand gebrochen ist. Mussten Sie Journalist werden?
Meyer: Ich glaube, es war vorbestimmt. Es dauerte nur, das zu erkennen. Mein Onkel, von dem ich Vornamen und Beruf habe, war ein Landreporter, der über alle alles wusste. Das fand ich toll. Er konnte über jeden Geschichten erzählen. Durch ihn habe ich Neugier gelernt, die Segnung umfassender Information und manche Dinge nicht zu schreiben. Und nun 30-jähriges Berufsjubiläum. Am 2. Januar 1979 begann mein Volontariat in Köln.
AJ: ‚Akte’ ist Boulevardjournalismus. Wo ist der Unterschied zum ‚Trash’?
Meyer: Ich schätze den Boulevard-Journalisten, der so gern verachtet wird, weil er nicht wie Twitter und Blogger über persönliche Befindlichkeiten schreibt oder, wie Terminjournalisten, sich den Pressestellen an den Hals wirft, sondern sich nach dem Konsumenten richtet und dem, was ihn umtreibt. ‚Akte’ versucht investigativen Journalismus, sucht nach Wahrheit und Zusammenhängen und fächert diese bildhaft für eine große Masse spannend auf. Wir betrachten uns inzwischen sozusagen als ‚weißer Ritter’, an der Seite des Zuschauers. Reporter decken jetzt nicht mehr nur auf, heute heißt es ‚Reporter kämpfen für Sie“. Unser Journalist ist kein Richter, aber jemand, der nicht auf den Mund gefallen ist und ohne Angst vor Fürstenthronen im Sinne seines Zuschauers agiert.
AJ: Anwalt des kleinen Mannes?
Meyer: Anwalt klingt dröge, nach Papierform. Ritter zu sein dagegen heißt, auf die Straße zu gehen und die wahren Verursacher schwieriger Situationen zu finden. Unsere Leute konfrontieren Menschen, die teilweise durch Bodyguards oder verschlossene Türen geschützt sind und manchmal hoch aggressiv auftreten. Um zu fragen. Einfache, schlichte Fragen, die zu stellen viele Menschen nicht die Möglichkeit haben. Menschen in einer Situation von persönlicher Erniedrigung. Dieses Gefühl haben zunehmend viele Leute.
AJ: Der Protagonist Ihrer Lieblingskrimiserie ‚Der Mann mit dem Koffer’ ist ein desillusionierter Einzelgänger, der austeilt und einsteckt. Die Serie war einzigartig wegen ihres ‚nüchtern-schmutzigen Realismus’. Sehen Sie Parallelen zu ‚Akte’ und dem Moderator Ulrich Meyer?
Meyer: McGill ist als Privatdetektiv käuflich, das sind wir nicht. Außerdem lösen wir nicht einen einzelnen Fall, sondern einen Fall, der für möglichst viele ähnliche steht. Manchmal nehmen wir, wie McGill, bis hin zu Schlägen alles in Kauf, um eine Sache zu befördern. Aber ich sehe mich nicht als McGill, eher als Horst Tappert des Privatfernsehens.
AJ: Desillusioniert Sie Ihre Arbeit gelegentlich?
Meyer: Im Gegenteil, Desillusionierung setzt ein, wenn man mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert wird. Wir verzeichnen mit einer gewissen Stetigkeit Erfolgserlebnisse. Wenn die Kamera irgendwo auftaucht, dann wenden die Dinge sich meistens zum Guten.
AJ: Kann vor einer Kamera Realität überhaupt existieren?
Meyer: Aber natürlich. Realität wird dann verändert, wenn die Kamera sichtbar und mit viel Licht agiert. Bei einer versteckten Kamera besteht die Möglichkeit, bei allen rechtlichen Problemen, die wir nicht weiter beleuchten wollen. Deswegen sage ich, dass wir uns den Einsatz der versteckten Kamera als Instrument nicht aus der Hand schlagen lassen dürfen.
AJ: Ihre 1992 gegründete Produktionsfirma Meta-Productions bezeichnen Sie als ‚Ideenschmiede für massenattraktive Information’. Was verstehen Sie darunter?
Meyer: Information, die einen bestimmten Unterhaltungswert hat, präsentiert von einem Anchorman, dem ich traue, den ich mag, dem ich eine gewisse Glaubwürdigkeit attestiere. Das ist der gewisse Kleber, weil der Zuschauer glaubt, über dessen Emotion und Reaktion dieses Gewebe, das da draußen existiert, besser abchecken zu können.
AJ: Was ist gutes Infotainment?
Meyer: Das ist relativ einfach. Nicht Sachverhalte, nicht Parteien, nicht Bücher, sondern die Menschen dahinter. Das läuft ausschließlich über das Erzählen und benötigt nicht nur den ‚wahren Kern’, sondern ein ‚wahres Skelett’. Nur dann bin ich in der Lage, die Entertainment-Anteile herauszuarbeiten. Die Frage ist, wie viel ‚Zuckerguss Entertainment’ packen wir auf die ‚bittere Pille Information’. Aber die Information muss schon drin sein. Man kann lange debattieren, ob das von Vor- oder Nachteil ist. Wir merken immer wieder, dass die klassische Präsentation von Informationen der großen Verlierer der Programmauffächerung ist. Individualisierung und Personalisierung haben eine Wirkung. Unsere Aufgabe ist es, ein möglichst großes Publikum mit intensiver Information geschickt zu unterhalten und zu informieren. Wie man mit einer Geschichte umgeht, bestimmen der Journalist, das Format und der Sender. Der Zuschauer trifft die Wahl, was schau ich an.
AJ: Warum haben sie sich 1992 selbstständig gemacht?
Meyer: Ich war damals sieben Jahre bei RTL. Es gab ein Angebot des anderen großen Privatsenders. Ich habe mich damals recht schwer getan. SAT.1 waren immer die ‚Rich Kids’, RTL die ‚Poor Kids’, beim Start jedenfalls. Wenn man so lange bei RTL war, sozusagen alles mitbekommen hat, den Kampf, das Alltagsgeschäft, dann war es ein absolutes no-go, zu den ‚Rich Kids’ zu wechseln. Dafür hatte mein Gesprächspartner auch Verständnis und vorgeschlagen, dass ich mich selbstständig mache. So bin ich zu meiner Firma gekommen, weil mich ein Kunde darauf hingewiesen hatte.
AJ: Was reizt Sie am Medium Fernsehen?
Meyer: Die Möglichkeiten zur Information haben sich gewaltig verändert. Print ohne elektronischen Teil funktioniert heute nicht mehr. Insofern habe ich schon vor 17 Jahren die richtige Entscheidung getroffen, um zusammenzuführen, was ich gelernt habe. Ich schreibe nicht zur Selbstbefriedigung, kein Reporter tut das mehr. Ich denke, es war für mich außerordentlich wichtig, bei der Zeitung anzufangen, bin aber zum richtigen Zeitpunkt zum Medium Fernsehen gewechselt und auf einer Welle mitgetragen worden, die wahrscheinlich ein einziges Mal so durch den Ozean lief.
AJ: Der Fast-Mediziner und der Fernsehproduzent: Schneiden beide an einem kranken Organismus, versuchen Linderung und Heilung?
Meyer: Dass wir Heilung hinkriegen, wage ich zu bezweifeln, aber eine ordentliche Diagnose, das ist doch auch schon etwas.
AJ: Wie vertragen sich Aristoteles’ Philosophie in der Unternehmensdarstellung und Beitragstitel wie ‚Bläst er oder bläst er nicht?’ (Stefan Mross und die Trompeten)
Meyer: Das ist ‚Hard Sellin’ und hat mit Aristoteles wiederum nichts zu tun. Aber wir wissen, dass unsere Zuschauer sich bisweilen auch mit diesen Dingen ansprechen lassen.
AJ: Was macht ein Problem zu einem telegenen Thema?
Meyer: Ich muss das Ganze bebildern können. Das Eine ist die Geschichte, das Zweite sind die Protagonisten. Es gibt aber Geschichten, bei denen der Journalist fälschlicherweise der Meinung ist, das müsste doch alle umtreiben, und die fallen total durch. Der hochfliegende journalistische Anspruch an den Zuschauer, ‚bitte interessiert euch dafür, ich find das geil’, hat mit der Realität nichts mehr zu tun.
AJ: Wie entsteht ‚Akte’?
Meyer: Das ist relativ einfach, inzwischen fast ein Perpetuum Mobile, denn die Menschen haben natürlich Freude daran, Übeltäter konfrontiert zu sehen. Unsere Recherche und journalistische Neugier wird zum großen Teil angetrieben von Zuschauerzuschriften. Der Motor läuft ständig, um jeden Dienstag neu da zu sein.
AJ: Gab es den Versuch der Instrumentalisierung?
Meyer: Ja. Das sind die schwierigsten Fälle für einen Journalisten. Man muss merken, wenn Leute einen einspannen wollen, fragen, ist das plausibel, belegbar, muss Dokumente sammeln. Bauchgefühl ist extrem wichtig.
AJ: Sind Sie heute eher Unternehmer oder Journalist?
Meyer: Ich sehe mich eher als Journalist. Aber für die Umsetzung einer Idee benötige ich Geld. Daher bin ich auch Unternehmer geworden und imstande zu sagen, Ende, das Budget ist erschöpft. Du kannst jeden Film noch schöner machen, aber wenn die Wahrheit gefunden ist, können wir die Geschichte mit gutem Gewissen bringen.
AJ: 14 Jahre gibt es ‚Akte’. Was hat sich verändert?
Meyer: Es gibt weniger Auslandsgeschichten. Die Recherche ist intensiver, was die Überprüfung von Aussagen anbelangt, auch deren Dokumentation. Die Arbeitsweise ist stark professionalisiert. Heute ist besser messbar, wenn ein Thema nicht greift oder absolut fasziniert. Wir haben eine Geschichte über einen Pestausbruch in Indien. Wir haben einen Reporter hingeschickt und ein schöne Reportage daraus gemacht, die hier niemanden interessiert hat. Nur unsere Buchhalterin wollte die Spesenabrechnung nicht machen und ging mit Einweg-Handschuhen an die Quittungen. Diese Fehleinschätzung würde heute nicht mehr passieren.
AJ: Scheuen Sie noch die Quotenschau?
Meyer: Ich scheue sie nicht, aber sie verursacht immer das gleiche körperliche Ereignis, dass alles südlich des Magens sich kurzzeitig zusammenkrampft.
Man lernt mit Erfolg oder Misserfolg umzugehen. Das Perpetuum Mobile läuft ja weiter. Jede Sendung begleiten wir mit der gleichen Begeisterung und die Quote von überraschend hoch bis niederschmetternd niedrig trifft dich ganz persönlich, ganz tief und ganz allein.
AJ: Gibt es neue Formatideen?
Meyer: Wir beliefern das Frühstücksfernsehen, das Magazin ‚24 Stunden’, Doku-Sendeplätze, ‚taff’ von Pro Sieben und Kabel eins, wir arbeiten für RTL II, für Reportagen. Wir machen ‚Escher“ für den MDR, die ‚Spur der Täter’ und einige andere Dinge. Aber Journalismus, der Umgang mit einzelnen Personen und Geschehen – das lässt sich nicht wild multiplizieren in 2.000 Folgen. Wir sind kein industrieller Betrieb, wir sind eine Manufaktur.
AJ: Gibt es ein Format im Fernsehen, das Ihnen besonders gefällt?
Meyer: Wenn ich meiner Frau einen Gefallen tun möchte, schauen wir ‚Criminal Intent’. Ansonsten sehe ich Reportagen, weil das in meinen beruflichen Bereich hineinragt. Auch Berichte von Menschen, die das ‚Gewese Fernsehen’ um eine ganz neue Dimension erweitern. Für den Zuschauer Meyer ist Fernsehen eine Überraschungsmaschine. Da sind so viele Perlen drin, sie zu finden ist die Herausforderung. Den Schlüssel zum Königreich hat jeder - die Fernbedienung.
Das Gespräch führte Rico Bigelmann
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