Die produktive Stadt
Gewerbehöfe 2.0 sollen dazu beitragen, die Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten wieder aufzuheben und Handwerk und Gewerbe im Kiez zu halten
„Das ist Neuland“, sagt auch Professor Lech Suwala von der Technischen Universität Berlin, der mit seinen Student:innen den Entwicklungsprozess begleitet. Vor 100 Jahren wurde in Berlin im Vorderhaus gewohnt und im Hinterhof gearbeitet. Die sogenannte Berliner Mischung beschrieb das dichte Nebeneinander von Wohnen, Gewerbe und Produktion. Mit der Industrialisierung und leistungsfähigen Transportmedien änderte sich das: Gewerbe und Produktion rückten zunehmend an den Rand der Stadt.
Neue Technologien und Digitalisierung machen es nun möglich, sauber, leise, umweltverträglich und vor allem platzsparend zu produzieren, auch mitten in der Stadt. Aber wo? Aus alten Gewerbehöfen sind inzwischen vielerorts moderne Wohnungen geworden. Das Konzept der „Produktiven Stadt“, fest verankert in der Neuen Leipzig-Charta von 2020 als Leitdokument für eine zeitgemäße Stadtpolitik in Deutschland und Europa, fordert die stärkere Integration von kleinen Gewerbebetrieben in die bestehenden Quartiere einer Stadt. Die Charta postuliert, dass „kleingewerbliche Wirtschaftsstrukturen in Städten wieder deutlich an Relevanz gewinnen“.
Die sogenannten Gewerbehöfe 2.0 sollen nun dazu beitragen, die Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten wieder aufzuheben. Sie sollen dabei helfen, die Produktion in die Stadt zurückzuholen, allerdings „ohne qualmende Schornsteine“. Und noch eines liegt auch Carola Zarth, Präsidentin der Handwerkskammer Berlin, am Herzen: „Wir wollen unsere Handwerksbetriebe in den Kiezen halten.“
Moderne Technologien sind inzwischen ein neuer Baustein im Handwerk. Malerroboter, die 80 Prozent der großen Flächen autark streichen, verändern auch die Aufgaben von Maler:innen. Elektriker:innen nutzen Augmented Reality für das Planen und Installieren ihrer Schaltkreise. „Die Arbeitsprozesse im Handwerk verändern sich rasant und fortwährend“, sagt Suwala.
Die Gewerbehöfe 2.0 sollen nun richtungsweisend die einstige Berliner Mischung vor dem Hintergrund gegenwärtiger Ansprüche wiederbeleben. Sie sind Testlabore für die Stadt der Zukunft. Traditionelle Unternehmen und Start-ups arbeiten hier gemeinsam an den Lösungen für die Herausforderungen von morgen.
Für den ersten Gewerbehof 2.0 in der Lichtenberger Bornitzstraße haben derweil die konkreten Planungen begonnen. Welche Bedarfe haben Handwerker:innen? Welche die Start-ups? Wie können Handwerk und Start-ups bestmöglich interagieren und so voneinander profitieren? Wie erfolgt die Finanzierung? Was macht für den Standort Sinn?
Bedarf für die Etablierung von Gewerbehöfen besteht in ganz Berlin. Im Rahmen eines Priorisierungsprozesses wurde zunächst analysiert, wo die Arbeiten am ehesten beginnen können. Hierbei war die Bornitzstraße in Lichtenberg einer von mehreren Standorten in Berlin – darunter Marzahn und Spandau – die zur Auswahl standen. Am Ende des Priorisierungsprozesses startet das landeseigene Pilotprojekt „Gewerbehof 2.0“ nun also in Lichtenberg. Entstehen sollen zweckmäßige Gebäude mit moderner Infrastruktur, durch welche die Kooperation von Start-ups mit Handwerk und Gewerbe ausgebaut wird, so dass neue Konzepte und Ansätze schneller umgesetzt werden können.
Lukas Becker hält einen Zeithorizont von fünf Jahren bis zur Fertigstellung für ambitioniert, aber realistisch. Dann sollen die ersten Firmen in den neuen Gewerbehof einziehen können. „Wir machen etwas, das es noch nicht gibt“, sagt Becker und antwortet auf die Fragen nach den Folgen: „Wenn wir das so genau sagen könnten!“ Branchen würden konvergieren, andere komplett verschwinden, wieder andere, neue dafür entstehen, meint er. Wie erfolgreich es jedoch sein kann, neue Ideen auszuprobieren, ergänzt er zuversichtlich, zeige der Technologiepark Adlershof.
Rico Bigelmann für POTENZIAL
- Gewerbehöfe 2.0 – WISTA Management GmbH
- Prof. Dr. Lech Suwala (tu.berlin)
- Carola Zarth – Handwerkskammer Berlin