Einhörner, Musen und andere Mythen rund um die Geschäftsidee: Was ist der heilige Gral der Innovation?
Essay von Heike Hölzner, Professorin für Entrepreneurship und Mittelstandsmanagement an der HTW Berlin
Genialer Einfall oder günstige Gelegenheit? Wie innovative Geschäftsideen entstehen, treibt in Zeiten der Digitalisierung viele um. Egal ob Start-up oder Konzern, alle sind auf der Jagd nach dem heiligen Gral der Innovation: einem Instrument oder Verfahren, mit dem Innovationen gezielt entwickelt werden können.
Wenn man Managementbestsellern und Unternehmensberatern Glauben schenkt, lautet die Antwort in etwa so: Man kombiniere Kreativitätstechniken und Prognoseinstrumente, streue noch ein wenig „Mindset“ ein und schreibe alles brav auf bunte Klebenotizen. Immer mehr Unternehmen richten Ideenlabore ein oder senden ihre Führungsteams zu „Retreats“, in der Hoffnung, dass sie dort von der Muse geküsst werden. Aber entstehen so wirklich brillante neue Ideen?
Forscher der Universität Oldenburg haben sich dieser Frage empirisch* angenommen. Sie untersuchten die Ideenimpulse der 50 wertvollsten Digital-Start-ups aus den USA und Europa. Unter diesen Unicorns (Einhörner), wie Start-ups mit einer Bewertung von mehr als einer Milliarde US-Dollar auch bezeichnet werden, waren „airbnb“, „Uber“ und „Hello Fresh“. Der Ursprung dieser Ideen wurde verglichen mit dem Vorgehen sehr ähnlicher, aber gescheiterter Gründungen. Die Ergebnisse sind erstaunlich!
Nur eine von zehn Ideen entstand in einem kreativen Moment. Sechs Prozent der erfolgreichen Unicorns entstanden dadurch, dass ein Gründer in die Zukunft schaute und Technologie- oder Nachfragetrends prognostizierte. Auch die Analogie, also das Übertragen von Geschäftsmodellmustern aus einem anderen Bereich, erwies sich als schwierig. Zwar beobachten wir in der Gründungsszene immer wieder regelrechte Adaptionswellen, wie die sogenannte Uberization, während der Scharen von Start-ups mit dem Pitch „Uber für Branche X“ entstanden, erfolgreich sind damit aber nur wenige. Während 30 Prozent der gescheiterten Zwillinge versuchten, mithilfe einer Analogie eine Idee zu entwickeln, ist nur eines der untersuchten Unicorns auf diese Weise entstanden. Aber was war die Geheimzutat der Unicorns? Die Antwort ist simpel: In 50 Prozent der Fälle war es die innovative Lösung einer bereits vorhandenen, aber bisher nicht bedienten Nachfrage. Auch die Imitation ist besser als ihr Ruf. 14 Prozent der untersuchten Unicorns haben ihre Idee erfolgreich kopiert. Dagegen setzte nur eines der gescheiterten Start-ups auf Imitation. Besser gut kopiert, als schlecht selbst gemacht, wie es scheint.
Am Ende existieren sowohl unternehmerische Gelegenheiten, die entdeckt wurden, als auch solche, die erschaffen wurden. Keine der identifizierten Ideenquellen ist grundsätzlich gut oder schlecht und die Ansätze lassen sich sogar kombinieren. Der Mythos des von der Muse geküssten Visionärs hält dem Realitätscheck jedoch nicht stand. Im Zentrum erfolgreicher Ideen steht ein klar benennbares Kundenproblem, ein Ärgernis oder ein unerfüllter Wunsch aus dem Hier und Jetzt.
Wenn wir also nach mystischen Vergleichen suchen, um die Entstehung von Geschäftsideen zu verbildlichen, eignet sich vielleicht eher die Geschichte des griechischen Gottes Kairos. Als Sohn des Zeus symbolisiert er in der griechischen Mythologie den richtigen Moment. Ein geflochtener Zopf an der Stirn ziert sein ansonsten kahles Haupt und er rast, dank Flügeln an den Füßen, auf der Erde umher. Niemand weiß, wann und wo Kairos als Nächstes sein wird. Man muss wachsam sein, um ihm begegnen zu können, und entscheidungsfreudig. Denn wer „die Gelegenheit nicht beim Schopfe packt“, der wird schon in der nächsten Sekunde am kahlen Hinterkopf abrutschen und hat seine Chance verpasst.
So in etwa trifft es auch auf Gründer und andere Innovatoren zu. In der oben genannten Untersuchung war bei gut einem Drittel der erfolgreichen Unicorns der Wunsch zur Selbständigkeit bereits stark ausgeprägt, als den Gründerinnen und Gründern der entscheidende Einfall kam. Die besten Ideen entstehen am Ende also dann, wenn man offen für sie ist.
* Studie: Nicolai. A./Wallner, R. (2019): Heureka! Genialer Einfall oder schnödes Abkupfern?
In: Harvard Business Manager, März 2019, S. 48–54.