Gegründet auf Künstlicher Intelligenz
Ein Interview mit Studienautor Christian Rammer vom Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW)
Laut der Studie „KI-Start-ups in Deutschland“, die das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) letztes Jahr im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz erarbeitet hat, wurden hierzulande seit 1995 mehr als 6.600 Start-ups gegründet, die sich der Entwicklung und Anwendung von künstlicher Intelligenz (KI) widmen. Im CHIC!-Interview spricht Studienautor Christian Rammer vom ZEW über die auffällig hohe Überlebensquote der KI-Start-ups, ihre Vorliebe für Großstädte und die Vielfalt der Geschäftsmodelle, mit denen die jungen Unternehmen KI-Technologien in unterschiedliche Branchen transferieren.
Ihre Studie"KI-Start-ups in Deutschland" birgt überraschende Befunde. Hatten Sie vorher mit über 6.600 KI-Start-ups im Lande gerechnet?
Die reine Anzahl hat mich weniger überrascht als die frühen Anfänge. Es gab Mitte der 1990er Jahre eine erste Welle von Unternehmensgründungen mit KI-Bezug. Von 2014 bis 2018 war ein regelrechter Boom zu beobachten, der uns dank unseres fortlaufenden Monitorings des Gründungsgeschehens am ZEW nicht entgangen ist. Während die Gründungsdynamik in Deutschland aufgrund der demographischen Entwicklung, des gesunden Arbeitsmarkts und der teils schwierigen Rahmenbedingen seit Langem gering ist, bleibt die Anzahl der IT-Gründungen auf hohem Niveau. KI-Technologien sind ein Treiber dafür, zumal sie dank leistungsfähigerer Hardware und gestiegener Nutzungsfreundlichkeit alltagskompatibel geworden sind. Auch am ZEW nutzen wir seit geraumer Zeit KI-Methoden zur Analyse statistischer Daten. Ich selbst habe 1990 zum ersten Mal mit Deep Learning Methoden gearbeitet, die damals als neuronale Netze oder Fuzzy Logic geläufig waren. Das Thema ist also nicht ganz neu. Was wir nicht erwartet hatten: Die KI-Szene selbst war davon überrascht, wie viele sie mittlerweile sind. Unser Monitoring erfasst auch die kleinen Gründungen, die abseits der Gründungszentren und ohne Venture Capital (VC) starten.
Auffällig ist auch die ungewöhnlich hohe Überlebensquote. Sind Sie in Ihrer Forschung auf Gründe dafür gestoßen?
In der Tat hatten zum Zeitpunkt unserer Untersuchung nur sechs Prozent von allen seit 1995 gegründeten KI-Start-ups aufgeben müssen. Bei zwei Prozent ist unklar, ob sie noch im Markt sind. Aber in Summe sind 92 Prozent aktiv –das ist eine deutlich höhere Überlebensrate als wir sonst bei Neugründungen in Deutschland sehen. Die Nachfrage nach KI-Lösungen, nach KI-Beratung und nach branchenspezifischen KI-Anwendungen scheint groß genug zu sein, als dass die vielen Start-ups ihre Nische im Markt finden. Hinzu kommt, dass die Teams überdurchschnittlich an ihre Geschäftsmodelle glauben und nicht gleich aufgeben, wenn mal ein Rückschlag kommt.
Haben die offensichtlich robusteren Geschäftsmodelle der KI-Start-ups Auswirkungen auf deren Finanzierungschancen?
Ja. Die positive wirtschaftliche Entwicklung und hohe Überlebensrate spiegeln sich darin wider, dass die Bonitätseinstufung von KI-Start-ups um 13 Prozent über dem Durchschnitt aller Gründungen in Deutschland liegt. Auch bei VC-Gesellschaften stehen Geschäftsmodelle mit KI-Schwerpunkt hoch im Kurs, weil sie schnelles Wachstum und sehr gute Voraussetzungen zur Skalierung versprechen. Diese Vorteile bei der Finanzierung wirken dann natürlich auf die Robustheit und Wachstumsdynamik der KI-Start-ups zurück. Verstärkt wird diese Dynamik durch die vergleichsweise hohe Verfügbarkeit von Fachkräften. Es drängen immer mehr junge Menschen in diesen Markt, die sich als Digital Natives schon in ihrer Schulzeit intensiv mit IT befasst haben. Studierende, teils auch Schülerinnen und Schüler bringen nach Aussagen der Start-ups bereits viel Know-how mit – und lassen sich auch auf Vergütungsmodelle ein, in denen sie statt hoher Löhne Unternehmensbeteiligungen bekommen. Start-ups haben auf die Generation, die aktuell auf den Arbeitsmarkt kommt, offensichtlich hohe Anziehungskraft.
Gibt es Erkenntnisse, wie viele Start-ups KI-Lösungen entwickeln und wie viele eher KI nutzen, um ihre Geschäftsmodelle umzusetzen?
Mehr als zwei Drittel aller untersuchten Start-ups entwickeln KI-Lösungen. Ein Zehntel legt den Schwerpunkt auf Beratung und 22 Prozent verwenden KI, um ihre Produkte und Dienstleistungen zu optimieren. Allerdings war uns nur eine grobe Zuordnung möglich, zumal nicht alle Unternehmen, die KI-Technologien nutzen, darüber berichten. Gerade im B2C-Geschäft hängen Unternehmen die KI-Nutzung eher nicht an die große Glocke, weil eine gewisse Verunsicherung zu beobachten ist und teils auch durch überspitzte Medienberichte Ängste vor KI-Systemen geschürt werden, die sich gefährlich verselbstständigen könnten. Aus unserer ZEW-Innovationserhebung wissen wir, dass 2019 allein im Kreis der darin betrachteten Unternehmen 17.000 KI-Lösungen nutzen. Es ist daher wahrscheinlich, dass auch deutlich mehr Start-ups damit arbeiten, als wir es in der Studie erfassen konnten.
Fast 95 Prozent der KI-Start-ups gründen in Großstädten. Sie brauchen alle dieselbe Art hochqualifizierter Fachkräfte und haben häufig dieselbe Kundschaft im Blick. Nehmen sich die Start-ups durch ihre starke lokale Konzentration nicht gegenseitig die Luft zum Atmen?
Offenbar noch nicht. Selbst Teams, die abseits der Metropolen gründen, zieht es oft mit Niederlassungen in die Städte. Sie kommen dort leichter an hoch spezialisierte Fachleute. Oft arbeiten diese freiberuflich. Es gibt auch große Kooperationsbereitschaft in der Szene. Hier trifft der Begriff Ökosystem tatsächlich zu. Die Teams gehen teils Kooperationen ein, um einander in Wachstumsphasen mit Know-how und Arbeitskraft zu unterstützen. Darüber hinaus ist es gerade in dieser Branche möglich, dezentral zu arbeiten und die Zusammenarbeit über Webmeetings zu managen. Die Ballung in den Großstädten deutet aber darauf hin, dass dennoch persönliche Begegnungen und die Zugehörigkeit zur KI-Szene vor Ort gewünscht sind.
Ist es gesamtwirtschaftlich gesehen problematisch, dass so viele kleine, leicht übersehbare KI-Start-ups entstehen, während sich viele etablierte mittelständische Industrieunternehmen mit KI-Anwendungen schwer tun – auch weil ihnen die Fachkräfte fehlen?
Im Gegenteil. Aus Studien zur KI-Nutzung in größeren Unternehmen wissen wir, dass dort viele interne Barrieren bestehen. Es gibt Vorbehalte gegen KI, die üblichen Widerstände gegen Veränderungen, und meist ist es auch so, dass die eigenen Lösungen durch das Neue in Frage gestellt werden. All diese Vorbehalte von innen heraus zu überwinden ist oft schwieriger als Projekte mit jungen, dynamischen Teams von außen aufzusetzen, die das Neue mit ihrem ganzen Auftreten repräsentieren. Verlaufen solche Projekte erfolgreich, kann das sehr viel in Bewegung bringen – der Funke springt leichter über, als wenn der Impuls von einem altbekannten Gesicht aus dem eigenen Betrieb ausgeht, dem möglicherweise nicht alle den Erfolg gönnen. Der Transfer von frischem KI-Know-how, das viele Start-ups direkt aus der Wissenschaft in die Märkte tragen, ist ein erfolgversprechendes Modell. Zumal junge Unternehmen wendig genug sind, um ihre Ideen und Lösungen an die Bedürfnisse von ihrer Kundschaft anzupassen.
Die kleinen Teams sind also eher wie Lotsenboote, die große Frachter in unbekannte KI-Gewässer leiten – und dabei Risiken minimieren?
Genau. Sie gehen projektorientiert vor und ermöglichen es großen Unternehmen, erste Schritte zu tun und sich nach und nach von den Vorteilen der KI-Technologie für ihre spezifischen Anforderungen zu überzeugen. Was nicht zu unterschätzen ist: Von KI-Start-ups geht ein stetiger Wettbewerbs- und Anpassungsdruck auf etablierte Unternehmen aus. Sie tragen dazu bei, dass sich die Großen nicht auf ihrem Erfolg ausruhen, sondern innovativ und agil bleiben. Wo frische Ideen auf jahrzehntelang gewachsenes Marktwissen stoßen, entstehen zudem neue Ansätze für den branchenspezifischen Einsatz von KI-Methoden. Dabei wird das Innovationspotenzial der Technologie sehr effizient erschlossen und in die Breite getragen. Es dürfte auf diese Dynamik zurückführbar sein, dass wir so wenige KI-Start-ups scheitern sehen.
Seit 2018 hat sich der KI-Gründungsboom etwas abgeschwächt. Gibt es dafür strukturelle Ursachen, die politisches Handeln erfordern?
Wegen der Pandemie ist das schwer zu beurteilen. Sie hat doch im Alltag viel Durcheinander gebracht und verzögert. Es ist aber klar, dass nach dem Boom von 2014 bis 2018 mit jeweils über 450 Neugründungen jährlich irgendwann ein Abflachen der Kurve einsetzen wird. Der Markt ist nicht beliebig groß und aufnahmefähig. Irgendwann wird eine Sättigung eintreten, zumal die bereits gegründeten Start-ups ihre Wachstumschancen wahrnehmen und dabei neue Kunden gewinnen und neue Marktsegmente erschließen. Wir beobachten eine solche natürliche Verlangsamung des Gründungsgeschehens immer wieder – als Beispiel fallen mir die Gründungen mit Bezug zur Energiewende ein. Auch da gab es in den frühen 2000er Jahren einen Boom, der nach 2010 abflaute, weil die Start-ups bestehende Marktlücken nach und nach geschlossen haben. Vor diesem Hintergrund sehe ich bei KI-Gründungen aktuell keinen politischen Handlungsbedarf. Einzig beim Datenzugang könnten die EU und die Bundesregierung nachbessern. Durch den strengen Datenschutz sind hiesige KI-Start-ups gegenüber Teams in den USA und Asien klar im Nachteil. Denn der wichtigste Rohstoff, an dem sich künstliche Intelligenz trainieren lässt, sind nun einmal Daten. Wenn sie nicht zugänglich sind, bremst das die Innovation.
Zur Person: Dr. Christian Rammer ist Projektleiter im Forschungsbereich Innovationsökonomik und Unternehmensdynamik des ZEW. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Studien zur Innovationsforschung, zum Wissenstransfer Wirtschaft-Wissenschaft und zur Forschungs- und Innovationspolitik. Er forscht seit April 2000 an dem Mannheimer Leibniz-Institut. Die Studie „KI-Start-ups in Deutschland“ hat er mit einem ZEW-Team erarbeitet, zu dem auch Marius Berger, Patrick Breithaupt, Dr. Sandra Gottschalk und Dr. Jan Kinne gehörten.
Von Peter Trechow für CHIC!