Grand Challenge Einsamkeit
Welchen Effekt hat sie auf die Gesellschaft? Welche auf die Wirtschaft? Und wie lösen wir sie? Ein Interview mit Bessie Fischer-Bohn
Einsamkeit wird oft bei älteren Menschen verortet. Eine aktuelle Umfrage der Bertelsmann Stiftung zeigt jetzt: Jugendliche und junge Erwachsene sind stärker betroffen denn je. Knapp die Hälfte der Befragten – 46 % von 2.532 Menschen im Alter von 16 bis 30 Jahren – gaben an, sich einsam zu fühlen. Zehn Prozent davon sogar stark vereinsamt. Bessie Fischer-Bohn beobachtet diese Entwicklungen schon eine Weile. Einsamkeit ist eine Volkskrankheit und im Kontext unserer Wirtschaft eine Grand Challenge. Was kann jede:r Einzelne:r gegen soziale Isolation tun und welche Möglichkeiten sollten Unternehmen und Führungskräfte jetzt nutzen?
Frau Fischer-Bohn, die aktuelle Umfrage der Bertelsmann Stiftung überrascht: Immer mehr junge Menschen fühlen sich emotional einsam. Wie erging es Ihnen, als Sie von der Umfrage hörten?
Sie hat mich traurig gestimmt. Denn sie zeigt auch, wie wenig wir in unserer Gesellschaft verbunden sind. Dass sich die gängigen Strukturen, auf die wir uns sonst immer verlassen haben – Familie und Freundschaften seit Schulzeiten – dass die sich offensichtlich nicht mehr tragen. Die aktuelle Studie gibt uns gemeinschaftlich eine ernsthafte Denkaufgabe: Wie wollen wir mit dieser Einsamkeit umgehen?
Maßnahmen gegen Einsamkeit wurden auf höchster Ebene angeordnet: Das Bundesgesellschaftsministerium hat eine “Einsamkeitsstrategie” entwickelt. Lisa Paus sprach von 111 Maßnahmen. Kürzlich fand zum dritten Mal die Aktionswoche “Gemeinsam aus der Einsamkeit” statt.
Ja, und das ist richtig und wichtig so. Es kann ja nicht das Ziel sein, dass wir kollektiv vereinsamen. Das ist gesellschaftlich und auch wirtschaftlich sehr gefährlich, zumal Einsamkeit ernsthafte psychische Erkrankungen auslösen kann. Bei jungen Menschen kann Einsamkeit sogar dazu führen, dass sie ihre Persönlichkeit gar nicht erst ausbilden.
Inwiefern genau?
Damit junge Menschen ihren Charakter ausbilden und ihre eigene Meinung entwickeln können, benötigen sie Begegnung. Sie brauchen Austausch, Erfahrungswerte und auch Spiegelung durch andere Menschen. Wenn das alles fehlt – auch so wichtige Elemente wie Reibung und Streit –, dann fallen der Umgang und das Miteinander aus. Und genau damit geht ein sehr wichtiger Teil der Persönlichkeitsentwicklung einher. Das hat vielfältige Auswirkungen – unter anderem auf das Beziehungs- und Berufsleben, aber auch weit darüber hinaus. Das Ausmaß dessen ist uns, denke ich, noch nicht ganz bewusst.
Digitalisierung und Social Media haben in Zeiten der Isolation einen guten Dienst getan. Ob Vernetzung, Weiterbildung, Gemeinschaft – vieles hat elektronisch und virtuell stattgefunden. Warum tragen Digitalisierung und soziale Medien jetzt aber verstärkt zur Einsamkeit bei? Wie betrachten Sie den Komplex?
Der exzessive Gebrauch sozialer Medien kann das Gefühl von Isolation und Einsamkeit verstärken, das haben zahlreiche Studien belegt. Die Menschen beginnen, sich voneinander zu entkoppeln, sie verlernen das Miteinander. Ich beobachte schon länger, dass junge Menschen beispielsweise schon weit weniger miteinander telefonieren: Sie kommunizieren lieber via App mit Text- und Sprachnachrichten. Damit vermeiden sie aber im Grunde den direkten Austausch, den Dialog. So verlernen sie, sich zu unterhalten. Nehmen dann noch soziale Medien den Platz des echten Austauschs ein und spielt der Algorithmus die ohnehin schon beliebten Inhalte aus, erhalten Menschen keine neuen Impulse mehr. Im Grunde werden sie dann nur in dem bestärkt, was sie bereits kennen, und auch in der Art, wie sie bereits denken. Das kann wesentlich zu Isolation und emotionaler Einsamkeit führen.
Welchen Effekt wird das aus Ihrer Sicht auf den Arbeitskontext haben – einerseits resultierend aus der zunehmenden Einsamkeit, andererseits wegen der teils freiwilligen Isolation, den Rückzug ins Homeoffice beispielsweise? Sehen Sie Konsequenzen für Unternehmen und die Wirtschaft als Ganzes?
Der massive Anstieg psychischer Krankheiten trifft die Wirtschaft direkt. Einsamkeit bedingt psychische Erkrankungen, die teils lange und kostspielige Ausfallzeiten nach sich ziehen. Das ist ein messbarer Wirtschaftsfaktor. Was Isolation durch Remote Work und Homeoffice betrifft: Ich beobachte, dass gerade jüngere Generationen viel allein arbeiten und auch meinen, allein erfolgreich zu sein. Das finde ich problematisch. Sie unterschätzen, wie wichtig und gesund es ist, mit anderen Menschen in den Diskurs zu gehen. Was die Unternehmen betrifft: Der Erfolg vieler beruht auf der Zusammenarbeit von Menschen – auf Präsenz, Miteinander, gemeinsame Kreation, direkte Kommunikation, Konfliktfähigkeit und vieles mehr. Das alles erleben und lernen Teams aber nur zusammen. Hierfür braucht es eine gewisse Haltung: dass man gemeinsam weiterkommt.
Nun gibt es eine ganze Generation, die Pandemie-bedingt remote ins Arbeitsleben gestartet ist und nichts anderes kennt. Dazu gehören sicher auch die an der Umfrage beteiligten 16- bis 30-Jährigen.
Ja, und darin sehe ich eine große Herausforderung für Unternehmen – gleichzeitig aber auch eine klare Führungsaufgabe. Vorab – und das gilt im direkten Kontakt und für hybride Arbeit gleichermaßen: Führungskräfte müssen sich klarmachen, wie sie wirkliches Interesse an einer Person vermitteln. Dann erst können sie Menschen weiterentwickeln und motivieren. Was die gemeinsame Arbeit betrifft, rate ich Führungskräften, dass sie verstärkt den Mehrwert hervorheben, den Menschen gewinnen können, wenn sie im Team arbeiten. Dazu gehört, Projekte so aufzubauen und auch so zu steuern, dass sie ein Teamgefüge voraussetzen und dass ein Teamgefühl überhaupt erlebbar wird. Auch die Reflexion darüber ist wichtig – sprich: dass das Team regelmäßig gemeinsam reflektiert, wie ausschlaggebend der Impact jeder einzelnen beteiligten Person für das Projekt war.
Zu welchen Maßnahmen raten Sie Arbeitgebern noch, damit sie die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeiter schützen – auch präventiv?
Prävention ist ein Riesenthema – gerade zu Zeiten des Fach- und Arbeitskräftemangels, der Mitarbeitergewinnung und -bindung. Als Arbeitgeber und Verbund gibt es daher auch viele Überlegungen, wie Unternehmen verstärkt für die Gesundheit und Gesunderhaltung der Mitarbeiter:innen Sorge tragen können. Eine wesentliche Maßnahme betrifft die Unternehmenskultur an sich: Ist sie konstruktiv aufgebaut? Werden beispielsweise bestimmte gesundheitsfördernde Formate und Routinen gegen Isolation und Einsamkeit gepflegt? Gibt es Regeln und auch Konsequenzen, wenn dagegen verstoßen wird – beispielsweise, wenn Mobbing im Team zur Isolation einzelner Mitglieder führt? Das sind Leitfragen, die in konkrete Maßnahmen übersetzt und von den Führungskräften selbst vorgelebt werden müssen. Fördern sie selbst einen starken Zusammenhalt im Team? Kultivieren sie ein offenes Miteinander? Pflegen sie wertschätzende Kommunikation? Wenn Führungskräfte das nicht beherrschen, sollten sie aus meiner Sicht dringend darin geschult werden.
Beobachten Sie da auch positive Entwicklungen?
Ich beobachte in den letzten Jahren, dass Führungskräfte die Gefühle von Mitarbeiter:innen stärker wahrnehmen und auch mehr auf sie eingehen. Es hat schon ein Shift stattgefunden – von “Emotionen bleiben zu Hause” zu “Emotionen am Arbeitsplatz haben eine Daseinsberechtigung”. Die psychische Gemengelage kann natürlich nicht mit jedem Detail wahrgenommen und auch berücksichtigt werden, aber ich sehe, dass Führungskräfte zunehmend ein Gespür dafür entwickeln und empathischer auf ihre Mitarbeitenden eingehen, als es vielleicht vor zehn Jahren der Fall war.
Viele Unternehmen führen betriebliche Gesundheitsmaßnahmen ein. Gibt es hier am Technologiepark eine, die Wirkung zeigt?
Ja, das “Gesundheitsnetzwerk Adlershof”. Es ist für den gesamten Standort aufgesetzt und sogar das größte Netzwerk für betriebliches Gesundheitsmanagement in Deutschland. Aufgesetzt wurde es von der WISTA in Zusammenarbeit mit der Techniker Krankenkasse. Über die App “Gesund & Clever” können Mitarbeitende verschiedenste Angebote für ihre psychische und physische Gesundheit buchen, unter anderem Vorträge, Seminare, Workshops zu Themen wie Ernährung, Vorbeugung von Stress und Burnout, aber auch praktische, gemeinschaftliche Aktionen wie Lauftrainings.
Auch die WISTA Academy bietet zahlreiche Weiterbildungsprogramme in viele Richtungen an. Wenn Sie nun ein Seminar oder einen Workshop zum Thema Einsamkeit und Prävention anbieten würde: Zu welchen erprobten und heilsamen Aktionen würden Sie den Teilnehmenden raten? Was kann jeder einzelne Mensch im privaten und beruflichen Umfeld tun, um das Gefühl von Einsamkeit und Isolation zu lindern?
Was aus meiner Sicht hilft:
1. Ganz klassisch verhaltenstherapeutisch üben. Üben rauszugehen, üben sich zu verabreden, sich etwas mit anderen Menschen vorzunehmen, an Veranstaltungen teilzunehmen.
2. Routinen einführen. Beispielsweise einmal täglich versuchen, mit anderen Menschen in den Kontakt zu gehen. Ich kenne Menschen, die sehr in Isolation gelebt haben und für die es eine riesige Aufgabe ist, wirklich mit Menschen in Kontakt zu treten. Dennoch rate ich, sich zu überwinden und – ob es beim Einkaufen ist oder beim Spaziergang mit dem Hund – einfach mal über das “Guten Tag” hinauszugehen.
3. Sich Gruppen anschließen. “Gruppen” – da gehen schon bei vielen Menschen die Alarmglocken los, aber warum sollte man nicht mal einen Buchclub besuchen und schauen, wie es sich anfühlt? Ich las kürzlich vom Format “Walk and Talk”, bei dem sich in Großstädten Frauen zum gemeinsamen Spaziergang verabreden. Auch das ist eine erste wirksame Maßnahme, um Einsamkeit überhaupt erstmal zu enttabuisieren und sich mit Menschen zu treffen, die gemeinsam üben, sich ihrer Einsamkeit zu stellen.
4. Bei der Arbeit über die Fakten hinaus gehen. Man neigt auf der Arbeit oft dazu, sich kurz und bündig in der Sache auszutauschen. Ich empfehle, auch hier neue Routinen einzuführen, die dem Miteinander mehr Raum geben. Das geht auch, wenn man einander E-Mails schreibt. Wie? Indem man mit dem Ziel schreibt, eine Verbindung zum Empfänger oder der Empfängerin aufzubauen. Eine freundliche Einleitung, dann die zentrale Aussage und abschließend freundliche Worte sind dafür wesentlich. Diese zwischenmenschliche Verbindung hinzukriegen – ob im Projektmeeting, in der Kaffeeküche, im täglichen Abarbeiten von Tasks – sind das A und O, um einander in erster Linie Aufmerksamkeit zu schenken.
5. Feelgood-Management und externe Expertise. Es gibt oft Menschen in Unternehmen, die – sehr wichtig: inoffiziell – die Rolle einer Vertrauensperson einnehmen. Hier sollte in jedem Fall geklärt werden, ob diese Person die Rolle überhaupt tragen kann oder will und wie sie dabei unterstützt werden kann. An wen sollte sie beispielsweise berichten? Und wie steht es um die Verschwiegenheit? Diese Rahmenbedingungen sollten klar und transparent gesetzt werden, damit auch Lösungen für Betroffene gefunden werden. Einige Unternehmen haben die Rolle von Vertrauenspersonen längst institutionalisiert, beispielsweise mit offiziellem Feelgood Management. Andere setzen regelmäßig auf externe Expertise in psychologischer Beratung und Begleitung.
Schlussendlich ist das zentrale Mittel gegen Einsamkeit die Gemeinsamkeit.
Genau. Und sich das bewusst zu machen, das Bewusstsein für den Mehrwert von Gemeinschaft zu schärfen und aktiv gemeinsame Erlebnisse für sich und andere zu schaffen: Das ist eine gesamtgesellschaftliche, eine politische und auch eine wichtige unternehmerische Aufgabe.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Fischer-Bohn.
Das Interview führte Despina Borelidis.
Kontakt:
Bessie Fischer-Bohn
fischer-bohn(at)wista.de
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