Künstliche Intelligenz für eine erfolgreiche Energiewende
Das Start-up variate.energy bietet eine datenbasierte Risikobewertung für die Selbstversorgung mit Strom aus erneuerbaren Energien
Das Adlershofer Gründerduo variate.energy leistet Entscheidungshilfe für Unternehmen, Kommunen und andere Organisationen, die ihren CO2-Ausstoß mit Wind- und Solarprojekten senken wollen. Dafür bringt es mit Algorithmen historische und projizierte Wetterdaten für den geplanten Standort mit potenziell passender Technik und dem Strombedarf der Kunden in Einklang. Die datenbasierte Risikobewertung soll den Weg zu 100 Prozent Selbstversorgung mit grünem Strom ebnen.
Charlotte Huang und Joachim Reinhardt sind ein eingespieltes Team. Während sie die Pläne und Ziele ihres Gründungsprojekts variate.energy erklären, gehen ihre Gedanken nahtlos oft mitten im Satz ineinander über. Huang führt zu Ende, was Reinhardt begonnen hat und umgekehrt. Es passiert intuitiv, ohne jedes Drängeln. Es passt, dass sie am Registergericht als ReinhardtHuang GmbH firmieren.
Doch der Grund dafür ist ein anderer: „Wir haben uns schon vor diesem Projekt mit einer Data-Science-Beratung selbstständig gemacht“, erklärt Reinhardt. Huang blickt weiter zurück. Ihr gemeinsamer Weg begann an der Freien Universität Berlin, wo beide als angehende Volkswirte mit statistischen Methoden und Data-Science-Anwendungen des Finanz- und Versicherungswesens in Berührung kamen. Fasziniert vom Nutzen dieser Methoden brachen sie auf, um diese auf anderen Gebieten zur Anwendung zu bringen. Ihr Fokus: der Energiesektor. Huang ging ans Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI in Karlsruhe, um ihre Masterarbeit zu verfassen. Reinhardt tat es ihr am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE in Freiburg gleich. Fokus ihrer Arbeiten: die Optimierung von Energieprojekten mit moderner statistischer Methodik.
Hier schließt sich der Kreis zum Projekt variate.energy, das sie in der Gründerwerkstatt Adlershof vorantreiben. „Uns ist aufgefallen, dass in der Planung von Wind- und Solarprojekten die Variabilität der zugrundeliegenden Daten vergleichsweise wenig Berücksichtigung findet“, erklärt Reinhardt. Im Finanz- und Versicherungswesen sei das anders. „In deren Risikobewertungen fließen neben historischen Daten auch künftige Ereignisse ein, die statistisch im Bereich des Möglichen liegen“, ergänzt Huang. Solche modellbasierten Szenarien möchte das Duo im Energiebereich etablieren, um die Investitionsentscheidungen auf eine realistischere Basis zu stellen. Noch seien hier in hoher Auflösung vorliegende Wetteraufzeichnungen maßgeblich. Doch einerseits reichen diese nicht allzu weit zurück. Und andererseits beziehen sie wahrscheinliche Klima- und damit auch Wetterveränderungen der Zukunft nicht mit ein. Die statistische Basis der Energiewende greift zu kurz. „Selbst der Bundesrechnungshof hat das kürzlich moniert“, sagt Reinhardt.
Um dem zu begegnen, plant das Duo zweierlei: Einerseits leiten sie aus allgemeinen historischen Wetterdaten mithilfe von Algorithmen spezifischere – aber synthetische – Daten zur Solareinstrahlung und Windverhältnissen ab. Diese synthetischen Zeitreihen erweitern die Datenbasis für geplante Projektstandorte. Im zweiten Schritt geht es den Gründern darum, die erfolgversprechendste Solar- oder Windtechnik für den jeweiligen Standort zu finden und die Stromerzeugungszeiten in möglichst hohe Übereinstimmung mit dem Energiebedarf des Kunden zu bringen. Falls dies schwierig ist, geht es darum, den Speicherbedarf zu ermitteln, um perspektivisch eine Vollversorgung mit dem selbst erzeugten klimaneutralen Strom zu erreichen.
„Wir möchten Unternehmen, Kommunen und anderen Organisationen, die Wind- und Solarprojekte zur Reduzierung ihres CO2-Fußabdrucks planen, Entscheidungshilfe geben und ihnen zu realistischeren Risikoeinschätzungen verhelfen“, sagt Huang. Langfristig solle ihr mit KI-Algorithmen optimiertes Matching der historischen und synthetischen Wetterdaten am Standort mit dem Strombedarf der Kunden und geeigneter Solar-, Wind- und Speichertechnik dazu führen, dass immer mehr Unternehmen Zutrauen in selbst erzeugte erneuerbare Energie fassen und ihre Versorgung nach und nach ganz darauf umstellen. Je genauer die Vorfeldanalysen von variate.energy mit den tatsächlich erzielten Erträgen übereinstimmen, je direkter die Stromerzeugung den Eigenbedarf deckt und je zutreffender ihre KI-basierten Wirtschaftlichkeitsanalysen, desto schneller werden Unternehmen und Kommunen ihre ganz eigene Energiewende vollziehen.
Als Start-up auf der ersten Meile ist variate.energy an Pilotprojekten interessiert – sei es mit Akteuren aus dem Energiebereich oder mit Unternehmen, die über Solar- oder Windprojekte nachdenken. „Wir haben uns wegen des Unternehmergeists und der Netzwerke vor Ort bewusst für Adlershof entschieden“, sagt Huang, „und außerdem sollte die Energiewende gerade in Berlin ein Erfolgsmodell werden“, führt Reinhardt den Satz zu Ende.
Peter Trechow für POTENZIAL – Das WISTA-Magazin