Phasenwechsel
Helge Riemann erforscht seit über dreißig Jahren Verfahren zur Herstellung jenes Stoffes, der Silicon Valley seinen Namen gab: Silizium. Auf seinem Berufsweg hat er erlebt, wie sich die Produktion des Halbmetalls durch die politischen Systeme hinweg verändert hat.
„Silizium ist ein Universalwerkstoff – wie früher Stahl“, sagt Helge Riemann, Leiter der Abteilung Silizium/Germanium. „Um einen Kristall wachsen zu lassen, ihn zu ‚züchten‘, gibt es zwar nur vier bis fünf wesentliche Bedienungselemente. Aber der Vorgang, den man damit steuern muss, ist hochkomplex. Im Grunde wie beim Autofahren“.
Seit einigen Jahren ist Riemann mit seinem Team an einem besonders spektakulären Projekt beteiligt. Das Kilogramm, welches als eine der letzten Maßeinheiten immer noch durch ein künstlich gefertigtes Urmaß definiert wird, das nahe Paris in einem Tresor gelagert wird, soll neu definiert werden – mithilfe eines Siliziumkristalls. Am Projekt beteiligt ist das St. Petersburger Zentrotech Institut. Dort hatte man, noch in Zeiten des Kalten Krieges, Zentrifugen entwickelt, um einzelne Isotope bestimmter Elemente sehr hoch anzureichern. Man denkt da natürlich sofort an Uranisotope zur Herstellung von Atomwaffen. Aus dem isotopenreinen Silizium schmolzen Riemann und Kollegen anschließend einen perfekten Einkristall, aus diesem wiederum wurden zwei Kugeln herausgearbeitet. Am Ende soll die Anzahl von Atomen in einer solchen Siliziumkugel bestimmt werden, die zusammen genau ein Kilogramm ergeben, sodass die Definition eines „Kilo“ nie mehr verloren gehen kann.
Die Kristallzüchtung in Adlershof hat eine ähnlich wechselhafte Geschichte durchlaufen wie die Zentrifugenanlagen in den russischen Laboren. 1977 kam Riemann, damals noch keine dreißig Jahre alt, nach dem Studium der Physik in Leipzig und seiner Promotion über Phänomene beim Phasenübergang von Ferroelektrika (die heute z. B. im USB-Stick eine Rolle spielen) an das damalige Zentrum für wissenschaftlichen Gerätebau in Adlershof. „Dort wurden für die Akademie der Wissenschaften Forschungsgeräte aus dem Westen nachgebaut, die die DDR nicht importieren wollte oder konnte“, erzählt Riemann. „Infrarotspektrometer, Chromatografen, Satellitenteile. Zuletzt Maschinen und Geräte für die Mikroelektronik. Unter anderem eben auch die Technologie der Siliziumkristallzüchtung.“
Nach der Wende hatte sich nicht nur der Gerätenachbau erübrigt – auch andere Fachleute wurden freigesetzt. Darunter zum Beispiel die Kristallzüchter und -diag-nostiker des Zentralinstituts für Optik und Spektroskopie. Der damalige Themenleiter Silizium am Zentrum für Gerätebau, Winfried Schröder, begriff diese Situation als Chance. „Schröder hatte Kontakt zu Kollegen im Westen: zum Silikonkristallhersteller Wacker Siltronic in Bayern, zum Kernforschungszentrum in Jülich und zum Institut für Elektrowärme an der Universität in Hannover“, erzählt Riemann. „Alle zusammen machten sich beim Forschungsministerium in Bonn dafür stark, ein neues Institut für Kristallzüchtung zu schaffen und Teile des ehemaligen Gerätebaus dorthin zu überführen.“
Anwendungsmöglichkeiten für die Kristalle finden sich immer mehr. Solarzellen etwa aus einkristallinem Silizium haben einen höheren Wirkungsgrad als multikristalline. Noch sind sie aber deutlich aufwendiger in der Herstellung. Ein anderes Projekt: die Gewinnung von Energie aus der Abwärme von Autoabgasen. Oft konkurriert das Silizium mit anderen Lösungsansätzen, die ebenfalls in der Entwicklung sind. „Aber ich bin natürlich parteiisch“, sagt Riemann, „ich bin für Silizium.“