Bewusst selbständig
Über ihre Erfahrungen im Start-up-Umfeld sprechen vier Unternehmerinnen aus dem CHIC
Vier Gründerinnen aus dem CHIC sprechen über ihre Entscheidung für die Selbständigkeit, ihre Freude am Verwirklichen ihrer Ideen und die Vorteile der beruflichen Unabhängigkeit. Aber natürlich kennen sie auch das gründungstypische Wechselspiel aus Zuversicht und Zweifel – und die Erfahrung, dass Respekt in der Businesswelt ungleich verteilt ist.
Fangen wir mal ganz vorne an. Was hat Euch jeweils zum Schritt in die Selbständigkeit bewogen?
Nele Diekmann: Die Unzufriedenheit mit meinem damaligen Job hat eine große Rolle gespielt. Nach meiner Promotion war ich in einem Verlag tätig. Es hat überhaupt nicht gepasst. Ich habe gekündigt und mich mit meinem Partner selbstständig gemacht. Das Profil unserer Agentur Historicity haben wir nach und nach in Richtung der lebendigen, technologisch unterstützten Vermittlung von Geschichte geschärft. Seit einigen Monaten haben wir ein Baby – und profitieren von der Flexibilität unserer Selbständigkeit.
Tatjana Samsonowa: Ich habe an der Technischen Universität Darmstadt promoviert und war zehn Jahre in der Forschung von SAP tätig. Das hat mich fachlich sehr weitergebracht, aber persönlich nur bedingt erfüllt. Ich hatte das Gefühl, zu wenig über die Welt und das Leben zu lernen. Der Forschung an Zukunftsthemen stand die Optimierung kleinteiliger IT-Prozesse gegenüber. Mir fehlte der Horizont, der Blick aufs große Ganze. Ich habe eine Phase von Umstrukturierungen zum Anlass genommen, mich als Beraterin selbständig zu machen. Unser Start-up Agents HQ hat seine technologischen Wurzeln in der Fraunhofer Gesellschaft, in der mein Mann Sebastian damals arbeitete und ausgegründet hat. Ich habe die Fraunhofer-Anteile schon vor Jahren gekauft. Seit der Pandemie und erst recht seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges konzentriere ich mich voll auf den Aufbau des Unternehmens. Denn unsere KI kann Unternehmen schnell und effizient beim Aufbau neuer Lieferketten helfen und exakt passende Partnerfirmen identifizieren. Auch liefert sie passgenau relevante Nachrichten, Informationen und gibt Unternehmen einen schnellen Überblick, was in der Welt über sie gesagt, geschrieben und gedacht wird. Die Jahre als selbständige Beraterin haben mich fachlich und menschlich gut auf die Gründung vorbereitet.
Wie war es bei Euch, Joanna und Anastasia?
Joanna Czarnecka: Mein Vater war Unternehmer und Künstler in Polen. Er hat uns vermittelt, wie wichtig Unabhängigkeit ist und dass Selbständigkeit eine zentrale Voraussetzung dafür ist. Im Polen der 1990er Jahre war es für ihn nicht immer leicht. Wir haben erlebt, dass unternehmerische Freiheit nur eine Seite der Medaille ist. Auf der anderen sind ökonomische Unsicherheit und vor allem harte Arbeit. Aber als sich während meines Studiums an der Freien Universität (FU) Berlin die Chance ergab, in einem FinTech-Start-up mitzuarbeiten, habe ich nicht lange überlegt. Nach meinem Master habe ich dann eine eigene Geschäftsidee vorangetrieben – und zixio gegründet.
Anastasia Ivanova: Ich habe nach meinem wirtschaftswissenschaftlichen Masterstudium zunächst im humanitären Bereich gearbeitet. Aber es hat von Anfang an nicht gepasst. Bei der Arbeit mit Essen ist das anders! Spannend finde ich, dass das Kochen für die Familie als weibliche Tätigkeit gesehen wird, aber professionelle Köchinnen eher skeptisch beäugte Ausnahmen sind. In meinem Unternehmen anisafood arbeite ich mit Frauen aus verschiedenen Ländern zusammen. Wenn wir kochen entsteht eine Stimmung wie früher in unserem Dorf in Baschkortostan [eine Republik in der Russischen Föderation] – alle arbeiten zusammen, reden, lachen und teilen ihre Geschichten. Daher kommt auch der Firmenname – ich wurde nur dort Anisa genannt.
Joanna hat von Ihrem Vater berichtet. Gab es auch bei Euch anderen in der Familie oder im Freundeskreis unternehmerische Vorbilder?
Nele: Mein Vater führte mit seinem Bruder zusammen eine Buchhandlung. Er war alles andere als begeistert, als ich mich selbständig gemacht habe. Mit der Zeit haben sich seine Bedenken gelegt. Wir sind ja nun auch schon ein Weilchen am Markt und er sieht, dass es funktioniert.
Tatjana: Ich bin in meiner Familie die akademische Ausnahme und die erste Unternehmerin. Es gab eher die Erwartung, dass ich einem geregelten Job nachgehe, eine Familie gründe und Enkel zur Welt bringe. Inzwischen habe ich beides: Ein Unternehmen und zwei Kinder, sechs und dreieinhalb. Eine echte Stütze ist mein Mann. Er hat fachlich und organisatorisch eine wichtige Rolle und ist mir ein Gegenüber, mit dem ich alle Belange des Unternehmens besprechen und reflektieren kann.
Anastasia: Ich bin vor fünf Jahren allein hierhergekommen. Was mir enorm hilft, sind die Beratungs- und Hilfsangebote für Gründerinnen. Ich habe da viel gelernt und finde gut, dass ich Ratschläge von Frauen bekomme, die selbst in der Unternehmerinnenrolle sind oder waren.
Habt ihr als Gründerinnen Negativerfahrungen gemacht – und falls ja, wie geht Ihr damit um?
Joanna: Ich habe das Gefühl, dass wir im Start-up-Umfeld auf Augenhöhe miteinander umgehen und die Genderfrage eher untergeordnete Relevanz hat. Aber ich erlebe es auf Veranstaltungen zu Technologie- und Businessthemen häufig, dass ich eine von wenigen Frauen bin – und bei Gesprächen komplett ignoriert werde. Erst wenn ich das Wort ergreife und klar wird, was ich fachlich drauf habe, hört man mir zu. Das ist aber möglicherweise auch eine Frage des Alters…
Tatjana: …das kann ich eins zu eins bestätigen. Ich war als Beraterin in aller Regel die einzige Frau zwischen lauter grauhaarigen Männern. Sie haben mir eingangs der Projekte durch ihre Blicke, Körperhaltung und ihr demonstratives Desinteresse zu verstehen gegeben, dass sie sich von mir Mädchen gar nichts werden erklären lassen. Aber nach einigen Minuten haben sie gemerkt, dass das Mädchen offenbar doch weiß, wovon es spricht. Erst dann haben sie sich aufgesetzt und ihre Telefone weggelegt. Heute, wo bei mir erste graue Haare durchschimmern, erlebe ich das sehr viel seltener. Es bleibt aber dabei, dass ich meist grauhaarigen Männern gegenübersitze, die in technischen Berufen klar in der Mehrheit sind und auf der Karriereleiter schneller vorankommen. Als Gründerin eines Technologie-Start-ups begegnet mir heute auch von Männern viel Respekt.
Man hört häufig, dass Chefinnen in Begleitung männlicher Mitarbeiter erleben, dass die Aufmerksamkeit automatisch den Männern gilt …
[aus der Runde kommt wissendes Lachen]
Tatjana: Ich habe teils ältere Kollegen zu Meetings mitgenommen. Die hatten als „Silver-Haired-Men“ eine ganze andere Glaubwürdigkeit, selbst wenn sie nur eins zu eins wiederholt haben, was ich zuvor gesagt habe [allgemeines Lachen]. Seit ich den Doktortitel habe, ist es besser geworden. Bei Dir auch Nele?
Nele: …kann ich bestätigen…
Tatjana: ...zusätzlich hat mir die Veröffentlichung eines Fachbuchs in einem renommierten Verlag Respekt verschafft.
Nele: Unsere Agentur bewegt sich weniger in Businesskreisen. Wir haben es oft mit Frauen in Stadtverwaltungen oder im Städtemarketing zu tun, die sich mit der Vermittlung von Kultur und Geschichte befassen. Alphamännchen sind in dem Umfeld eher selten anzutreffen.
Anastasia: Ich hatte zum Glück bisher keine negativen Erlebnisse. Obwohl ich erst 28 Jahre alt bin, erlebe ich viel Respekt und Unterstützung.
Tatjana: Darf ich kurz nachfragen, sind Eure Start-ups mit Risikokapital finanziert?
Joanna: Nein, wir finanzieren uns aus dem Cashflow und haben uns bewusst für ein organisches Wachstum aus eigener Kraft entschieden. Wieso?
Tatjana: Wir bemühen uns um eine Finanzierungsrunde, weil wir ein Stadium erreicht haben, in dem wir unser Geschäft skalieren müssen. Der Umgang mit Investoren ist eine – Erfahrung: Erstmals seit Langem habe ich wieder das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Wir sind profitabel, haben mehr als einen internationalen Konzern als Kunden. Und doch erleben wir, dass Teams mit schwächerer Technologie und ohne nennenswerte Umsätze Investments in Millionenhöhe einwerben, während man uns dauernd zu allen erdenklichen Risiken befragt. Ich frage mich mittlerweile, ob es daran liegt, dass Agents HQ von einer Frau geführt wird.
Weiblich geführte Start-ups erhielten zuletzt weniger als zwei Prozent des jährlich investierten Wagniskapitals. Und Studien zufolge sprechen Investoren im Finanzierungsgespräch mit Frauen eher über Risiken und Defizite, während sie mit Männern eher Chancen und Potenziale erörtern. Es gibt also handfeste Gründe für Deine Zweifel. Womit wir beim Thema Zuversicht und Zweifel wären. Habt Ihr Strategien, mit jenen Zweifeln und Ängsten, die alle Gründenden kennen?
Joanna: Die positive Grundhaltung, dass es mit der Gründung schon klappen wird, hatten wir von Anfang an. Aber natürlich gibt es Momente, in denen ich zweifele. Mir hilft es, diese Zweifel mit meinem Partner offen zu besprechen. Ich schreibe sie teils auch auf, denn das Schreiben hilft, sie zu strukturieren, Lösungen zu finden und auch wiederkehrende Muster zu erkennen. Wichtig ist es, sich in Momenten des Selbstzweifels nicht mit anderen zu vergleichen. Ich zwinge mich dann dazu, zurückzublicken: Wo stand ich und wo stand zixio vor einem Jahr? Dann wird mir klar, was wir geschafft haben. Das hilft.
Nele: Zuversicht ist wichtig. Natürlich gibt es Sorgen, wenn die Auftragslage dünn ist, zumal wir durch den Familienzuwachs eine größere Wohnung – mit entsprechend höherer Miete – brauchten. Aber es ist bis jetzt noch immer alles gutgegangen – und wir wissen mittlerweile, was wir können. Auch ich bemühe mich, Muster des Selbstzweifels zu identifizieren und zu durchschauen. In der Regel haben sie weniger mit der Realität als mit der aktuellen Stimmungslage zu tun.
Tatjana: Ich mache Zweifel in der Regel mit mir selbst aus – und habe keine gute Antwort darauf, wie sie sich auflösen lassen. Mit fällt dazu spontan meine Promotion ein: Da war ich monatelang allein mit einem Spezialthema befasst, zu dem ich kaum Jemanden etwas fragen konnte. Manchmal muss man sich eben allein durchbeißen. Wie Joanna eingangs gesagt hat: Ein Unternehmen zu führen ist harte Arbeit, oft zu Zeiten, wenn andere längst den Feierabend genießen.
Anastasia: Ich versuche, die Zweifel als einen Teil des Gründungsprozesses zu sehen. Wir haben alle Zweifel. Das ist natürlich – und gehört beim Aufbau eines Unternehmens dazu. Telefonate mit meiner Mutter helfen. Sie ist eine starke Frau und hat verstanden, dass sie mich ermutigen muss, statt meine Zweifel zu verstärken. Aber klar ist bei Alledem – alle haben Selbstzweifel, ob jung oder alt, groß oder klein, Mann oder Frau. Manche können sie nur besser verbergen und überspielen.
Tatjana: Ich tue mich schwer damit, mich als Expertin hinzustellen, wenn ich nicht wirklich solides Wissen habe. Ich vergleiche mich dann mit unseren Top-Entwicklern und deren Expertise. Aber ich habe es mit den Jahren verstanden, dass andere auch nur mit Wasser kochen. Trotzdem fallen wir als Frauen oft hinter dieser Erkenntnis zurück und fragen uns, ob wir kompetent genug sind – und wahrgenommen werden.
[Allgemeines Nicken und Zustimmen]
Nele: Im Start-up-Kontext habe ich viele männlich dominierte Teams erlebt, die Kompetenz ausstrahlten und absolut von ihrer Lösung überzeugt waren. Da stehst Du daneben und fühlst Dich fehl am Platz. Aber deren Start-ups existieren heute nicht mehr, während wir uns behauptet haben.
Das leitet über zur Perspektive. Wo seht Ihr eure Start-ups in fünf oder zehn Jahren?
Nele: Historicity wird keine völlig andere Firma sein. Möglicherweise können wir künftig zwei oder drei zusätzliche Stellen schaffen. In unserem Geschäft hat eine schlanke Struktur mit geringen Fixkosten Vorteile. Im Hinterkopf denken wir über Kooperationen nach, um unser Know-how doch noch in ein skalierbares Geschäftsmodell einbringen zu können. Erste Schritte in diese Richtung gehen wir gerade mit einer Gründerin hier im Raum.
Joanna: Ja, wir entwickeln gemeinsame Ideen, die aber noch nicht spruchreif sind. Mit zixio verfolgen wir eine Strategie des nachhaltigen Wachstums. Wir wollen personell wachsen. Dabei ist uns Qualität wichtiger als Quantität. Wir werden kein großes – am Ende austauschbares – Softwarehaus, sondern bleiben eine Boutique für sehr spezielle, hochwertige Softwarelösungen. Um sie vermarkten zu können, setzen wir auf Zertifizierung. ISO-konform sind wir bereits und auch in Sachen Usability arbeiten wir bereits mit US-Zertifizierern zusammen. Wir denken langfristig und qualitätsbewusst.
Anastasia: Ich habe viele Ideen und Pläne, um anisafood hier von unserer Basis in der CHIC-Cafeteria aus weiterzuentwickeln. Mit schwebt dabei ein Unternehmen vor, in dem viele Menschen gemeinsam gesundes Essen mit Herz zubereiten und das ein Lebensraum mit einer kollektiven, verbindenden Atmosphäre ist.
Tatjana: Im KI-Markt ist aktuell viel Bewegung. Es gibt sehr viele Akteure. Wir haben nur durch schnelles Wachstum ein Chance. Wir konnten in den letzten drei Jahren viele Türen bei internationalen Konzernen öffnen. Nun müssen wir nachlegen, um die Nachfrage nach unserer Technologie bedienen zu können. Dafür suchen wir einige Millionen Euro Wagniskapital, um ein schlagkräftiges Team aufbauen und unseren Vertrieb verstärken zu können. Wir haben in diversen Projekten gezeigt, dass unsere Agents echte Mehrwerte für unsere Kundschaft bieten. Das ist eine gute Basis, um mit voller Kraft durchzustarten.
Zu den Personen:
Dr. Tatjana Samsonowa ist CEO und Co-Founderin des KI-Start-ups AGENTS HQ GmbH, das darauf spezialisiert ist, für seine Kundschaft relevante Informationen aus dem exponentiell wachsenden globalen Datenaufkommen zu filtern. Ihre KI-Agenten durchsuchen Quellen in 150 Ländern in der jeweiligen Landessprache.
Joanna Czarnecka ist CEO und Co-Founderin der Zixio GmbH. Das Unternehmen entwickelt komplexe IT-Informationssysteme für Medizin, Pharma und Industrie mit besonderem Fokus auf den Einsatz von kognitiven Systemen und KI Technologien.
Dr. Nele Diekmann ist Mitgründerin der Historicity GbR Nele Diekmann & Marcel vom Lehn, die auf lebendige Geschichtsvermittlung mit Audioguides, Augmented Reality (AR) oder mit Gamification-Ansätzen spezialisiert ist.
Anastasia Anisa Ivanova baut gerade das Gastrounternehmen anisafood auf, das ab sofort die Cafeteria im CHIC betreibt und Catering mit gesunden internationalen Spezialitäten aus ihrer Baschkirischen Heimat, Osteuropa und anderen Regionen anbietet.
Das Interview führte Peter Trechow für CHIC!