Drei Haselnüsse im Keller
Schatzsuche in Adlershof
Ernst Thälmann ist da, Paul und Paula auch, Wilhelm Pieck und Professor Mamlock. Erwin Geschonneck rollt seine Karbidfässer, Jäcki Schwarz ist gerade neunzehn und Goijko Mitic reitet. Hase und Wolf, die Hexe Babajaga und Moritz aus der Litfaßsäule. Das Adlershof eine Schatztruhe ist, ist hinlänglich bekannt: eine wissenschaftliche, eine architektonische auch und eine wirtschaftliche nicht weniger. Doch ein weiterer Schatz lagert hier: einer, den man ein wenig suchen muss – das filmische Erbe der DEFA, der volkseigenen Filmstudios der DDR. Dagmar Bingel vom PROGRESS Film-Verleih und ihre drei Kollegen wachen über ihn.
Ein wenig versteckt liegt die Schatzkammer. Doch wer sucht der findet: Im Keller des Gebäudes, vorbei an der Tür mit der Aufschrift „Fernsehballett des MDR“, geht es hinein in einen Raum, der zunächst wie eine Mischung aus Aufenthaltsraum und Hausmeisterbüro aussieht. Doch irgendwie passt das Interieur. Denn die Filme, die von hier aus an Kinos, das Fernsehen oder zu besonderen Veranstaltungen in die Welt verschickt werden, sind meist ebenfalls etwas in die Jahre gekommen. Wann immer zur Weihnachtszeit Aschenbrödel ihre drei Haselnüsse für die Prinzenjagd im Fernsehprogramm einsetzt, wann immer Paul und Paula legendär auf der sommerlichen Leinwand eines Freiluftkinos räkeln oder Chris Doerk und Frank Schöbel sich einen heißen Sommer bereiten, kommt der Film aus dem Keller in Adlershof.
DEFA-Filmerbe bei Progress
1950: Im selben Jahr, in dem sich in West-Berlin der Berlinale-Gründungsausschuss zum ersten Mal trifft, wird in Ostberlin der PROGRESS Film-Verleih als Monopolverleih der DDR gegründet. Nach der Wende übernahm die neu gegründete DEFA-Stiftung die Lizenzrechte der DEFA-Produktionen und vergab die Auswertungsrechte an Progress – das vollständige Erbe: Spielfilme, Kinderfilme, Dokumentarfilme, Periodika und Wochenschauen zur Zeitgeschichte. Heute ist Progress einer der großen Repertoire-Filmverleiher in Deutschland.
Filmkopien begleiten Dagmar Bingel seit ihrer Lehre im Zentralen Kopierwerk in Johannisthal, wo sie Filmkopiefacharbeiter lernte. Bald danach ging es ins fernseheigene Kopierwerk nach Adlershof. Nach 20 Jahren Negativ-Schnitt, liegen nun viele Filme, die sie früher bearbeitet hat, im Progress-Filmlager. Das zog 1998 vom Ostkreuz nach Adlershof. In der DDR gab es insgesamt 15 Filmlager - je Bezirk eines - von dem aus die Disposition in die Kinos erfolgte. Nach der Wende wurden sie zusammengefasst. Große Teile befinden sich nun in Adlershof, andere wurden im Bundesarchiv eingelagert.
850 Quadratmeter Filmgeschichte
30 Meter lang sind die Gänge, fast dreieinhalb Meter hoch die Regale, die Zahl der Filmcontainer kennt auch Dagmar Bingel nicht ganz genau. 600 Meter Film in einem Karton, 1.800 in einer Trommel, drei Trommeln oder 20-25 Kartons pro Fach: „Die Olsenbande“ neben Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“, „Käuzchenkuhle“ neben „Solo Sunny“. 850 Quadratmeter Filmgeschichte. Insgesamt 4.000 Kopien lagern hier, 1.500 Spielfilme und 2.500 Trick- und Dokumentarfilme. Einige leider in so bedauernswertem Zustand, dass sie an Kinos nicht mehr verliehen werden können. Darunter Klassiker wie „Goya“ oder der Tarkowski-Film „Andrej Rubljow“. Ein Jammer. An der Lagerung liegt es nicht. Die ist im Keller optimal, da es hier dunkel ist und eine konstante Temperatur herrscht. „Große Temperaturschwankungen sind besonders schädlich für das Material“, sagt Dagmar Bingel, und fügt hinzu: „und manche Filmvorführer auch.“ Wütend mache es sie zeitweise, wie von einigen mit dem Material umgegangen wird. Früher war Filmvorführer – anders als heute - ein Lehrberuf. Da kommt es immer wieder zu Unfällen. Sie deutet auf eine Kopie, die der Länge nach in der Mitte geteilt und damit irreparabel ist. 15000 Euro kostet die Herstellung eines neuen Film-Negativs, 1500 Euro jede Kopie vom Negativ. Auch ein politisches Thema, wie Nicole Stelzner vom Filmverleih sagt. Sogar der Bundestag wird sich in Kürze in einer Anhörung damit befassen, wie das Film-Erbe gesichert und erhalten werden kann. „Eine Aufgabe“, sagt Stelzner, „die wir als Verleih nicht allein leisten können.“
Derweil suchen Dagmar Bingel und ihre Kollegen schon wieder Filme zusammen. Das Babylon in Berlin zeigt erstmalig alle Filme der Langzeitdokumentation „Die Kinder von Golzow“ als Filmmarathon „unlimited“. Tschingis Aitmatow-Verfilmungen wie „Der weiße Dampfer“ werden anlässlich des Todes des kirgisischen Schriftstellers sicher wieder nachgefragt. Und auch der Film „Alter Kahn und junge Liebe“ mit dem jungen Götz George geht im Sommerkino immer sehr gut.