Wladimir Kaminer...
...will alles wissen
Die Einladung, Adlershof zu besuchen, beflügelte meine Fantasie und ließ mich an früher denken, an die Sowjetunion. Es gab in meiner Heimat jede Menge Wissenschafts- und Akademikerstädtchen, eine Symbiose aus einer Hochschule für Hochbegabte, einem Forschungslabor und einem Reaktor. Alles natürlich streng gesichert und das meiste unterirdisch. Diese Wissenschaftsstädtchen waren aus Gründen der Geheimhaltung auf keiner Karte eingezeichnet und hatten merkwürdige Namen, die sich wie Parolen oder Science-Fiction-Titel anhörten: "Bobrujsk 25" oder "Tscheljabinsk 6". Nicht nur für Ausländer blieben sie unerreichbar, auch sowjetische Bürger brauchten eine spezielle Einreiseerlaubnis, wenn sie ihre wissenschaftlichen Verwandten an deren Wohnort besuchen wollten. Die Bewohner der Wissenschaftsstädtchen hatten eine bessere Infrastruktur und eine bessere Lebensmittelversorgung, man konnte in den Kaufhäusern dieser Geheimstädtchen sogar ausländische Qualitätsware finden. Die Wissenschaftler und ihre Familien trugen bessere Kleidung und dementsprechend sahen sie auch besser aus, als der unwissenschaftliche Rest des Landes.
Nicht zuletzt deswegen und natürlich wegen der neugierig machenden Geheimniskrämerei genoss die Wissenschaft in der Sowjetunion einen besonders hohen Stellenwert. Die Hoffnung des Landes auf eine würdige Zukunft ruhte auf den schmalen Schultern der Physiker, nicht der Lyriker, zu schweigen von den Politikern. Wenn ich mich richtig erinnere, stand unsere sowjetische Wissenschaft die ganze Zeit kurz vor dem Durchbruch. Ob in den Weiten des Kosmos oder in den Tiefen des Ozeans, wir lagen forschungsmäßig immer vorne. In den Fernsehnachrichten wurde jeden Tag von neuen Entdeckungen berichtet, die Erwachsenen schauten sich gerne die Wissenschaftssendung des Professors Kapiza mit dem lustigen Titel "Augenzeuglich und trotzdem unglaublich" an.
Ein ähnliches Fernseh- und Kinoformat für Kinder hieß "Will Alles Wissen". Die Serie wurde statt Werbung vor Beginn eines Spielfilms gezeigt. Jede Folge begann damit, dass ein Pionier in einer Rakete neben einer großen Walnuss anhält. Er steigt aus und holt einen riesigen Hammer aus der Hosentasche (ein solches Werkzeug konnte unmöglich in seine kleine Hosentasche passen, es sei denn der Anzug war um den Hammer herum genäht worden. Aber wir dachten damals nicht darüber nach). Sodann sprach der Pionier - mit einer hohen Frauenstimme "Hart ist die Nuss des Wissens, doch ihn zu knacken hilft uns das Magazin 'Will alles wissen'." Dabei hämmerte er mit voller Kraft auf die Nuss, insgesamt drei Mal, die Nuss ging auf, sie war leer.
Die Physiker haben den Sozialismus nicht gerettet, während der Perestrojka gingen viele Wissenschaftler ins Ausland, andere mussten schnell neue kapitalismustaugliche Berufe erlernen. Die einen verkauften Zigaretten auf dem Markt, die anderen stiegen dagegen zu erfolgreichen Businessmen auf. Der Pionier mit dem Hammer verschwand von den Bildschirmen, er ist mit seinem unlöschbaren Wissensdurst wahrscheinlich ebenfalls ausgewandert. Nur wohin? Vielleicht nach Adlershof?
Wir waren kaum fünf Minuten in Adlershof herumspaziert, schon standen uns die Haare zu Berge, so stark war der Wind. Nur im Windkanal war es ruhig. Am Eingang stand eine Gruppe asiatischer Lehrer, die ebenfalls an einer Führung durch die Wissensstadt teilnahmen. Draußen am Windkanal hing ein Schild - in russischer Sprache "Geprüft minenfrei". Wir gingen an Universitätsgebäuden vorbei, an der großen Bibliothek, am Teilchenbeschleuniger, der sich im Grünen versteckte und von außen wie ein Schwimmbad aussah. Man erzählte uns, über das ganze Städtchen würde ein Laserstrahl leuchten, (man sieht ihn allerdings bloß bei Nacht). Hier in Adlershof wird beinahe seit hundert Jahren geforscht. Hier wurden die Wunderflügel, Wunderoptiken und Wundersportgeräte entwickelt. Zum Beispiel die Formel für Hochsprungstäbe aus Glasfiber aus der DDR-Produktion.
Der Hotspot von Adlershof ist aber aus meiner Sicht das Institut für Planetenforschung. Hier wurde unter anderem die Kamera entwickelt, mit der man fernste Planeten photographiert. Die Deutschen sind wie die Japaner leidenschaftliche Fotografen. Fast den kompletten Mars haben sie bereits bis auf einige kleinere Hügel abfotografiert, leider aber noch kein Leben dabei entdeckt, dafür kann man aber im Institut auf eine Safari durch die Marswüste in 3D gehen. Demnächst wollen die Amerikaner zum Mond fliegen, die Karten von Mond sind aber veraltet, deswegen werden die Deutschen nun verstärkt auch noch den Mond fotografieren. Vielleicht fliegen die Deutschen zum Mund aber auch selbst und noch vor den Amerikanern, das wird Angela Merkel im Sommer entscheiden.
Zum Abschied habe ich die Fotos aller Planeten des Sonnensystems geschenkt bekommen, in zweifacher Ausfertigung für meine beiden Kinder. Zuhause schauten wir uns die Bilder an, mir war so, als würde uns von jedem Planeten der damalige Pionier mit Hammer und Rakete zuwinken, der alles wissen wollte.